Schreiend, Schweigend, Sichtbar
Ihr Körper spricht,
erinnert, ahnt, kotzt Gift aus
erzählt von verschwundenen Beinen,
von dem Mädchen,
das Strampeln als sinnlos erfuhr,
wenn der Vater nachts
ihren Körper benutzte...
tötete Lachen, Fühlen, für lange Zeit
Meine Füße hinterließen trotzdem Spuren
Renate Bühn 1992
Ein Familienbrief
An alle Mitwisser und Mitwisserinnen
Die Zeit meiner Mädchenjahre aufzuschreiben
das Leben innerhalb dieser 14 qm
leer, kalt - Kontrolle
Demütigung
Auslieferung
stumme Schreie
Wie diese 14 qm sichtbar werden lassen
in ihrer Grausamkeit für mich
meine Hoffnungslosigkeit darin
immer wieder vergraben
diese Ohnmacht
o h n e M a c h t
mir näher - aushaltbarer -
aktiver die Wut, mein Haß und die Rache
14 qm
Wände voller Uhren
tick tack
Kein Ort
Nirgends
Nichts ist mir eigen
NICHTS
alles konfisziert, kontrolliert
mein schmales Ausziehbett
einziger Ort
zum Ruhen
zum Verstecken
glaubte ich
14 qm
keine Luft zum Atmen
kein Entkommen
aus des Vater-Täters-Kontrolle
Hure, Flittchen, Ziege
Du wirst wie Die
da war ich zwölf
nachts hat er
seinen Schwanz an mir gerieben
sich an meinem Körper
Lust verschafft
mir mein Körper-Spüren geraubt
KEIN LÄCHELN
KEIN FÜHLEN
KEIN LEBEN
mehr in mir
für lange Zeit
Schuld
mit Schuld geboren
Gefühl meiner Mädchenzeit
Zeit des Horrors
der Wertlosigkeit
Betrachter - Betrachterinnen
Zuschauer - Zuschauerinnen
IHR ALLE
STILLSCHWEIGEND
NICHTHANDELND
zugesehen
EUCH an EURER WEISSEN Familientischdecke versammelt
WEISS gestrichene Fassaden
heute wie damals
Dahinter das GRAUEN FÜR MICH
die zerstörte, gebrochene
tote Mäddchenzeit bleibt
TRAUER und SCHMERZ
und IHR SCHWEIGT IMMER NOCH
Renate Bühn 1990/1991